Posted by on 25. September 2020

40 Jahre nach diesen beiden Beiträgen des Westdeutschen Rundfunk -Studio Essen- sind diese TV Mitschriften leider aktueller denn je!

Die ältesten, urkundlich bewiesenen Spuren des Ruhrbergbaus
von Ulrich Hinz
Zwischen Rhein und Weser/WDR II/17.05-17.55 Uhr/22.12.80

Im Ruhrgebiet machen sich immer mehr Leute auf, die vergangene Industrie- und Bergbaugeschichte wiederzufinden. Unter dem neuen Begriff „Industrie­ Archäologie“ sind rheinische und westfälische Denkmalpfleger unterwegs. Sie wollen – unterstützt von engagierten Laien, aber auch von Experten aus dem Bochumer Bergbaumuseum – die Wiege des Ruhrbergbaus finden, also wo einmal alles angefangen hat.
Experten des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe sagen: Das Muttental in Witten habe die ältesten Zeugnisse des Ruhrbergbaus. Tatsächlich gibt es im Wittener Muttental einzigartige Spuren des frühen Bergbaus. Aber eben nicht die ältesten. Denn bei Haßlinghausen, südlich von Sprockhövel, gibt es eine Gegend, in der sich noch viel älterer Bergbau ebenso einzigartig nachweisen läßt. Uber diesen – nach vorliegenden Dokumenten – tatsächlich ältesten und als solcher auch belegbare Bergbau des Ruhrgebietes berichtet Ulrich Hinz:

Hinz: Mitten im Grün der Felder und Wälder an der Grenze von Haßlinghausen und Sprockhövel zweigt von der Schevener Straße ein Weg ab. „Zechenstraße“ liest man auf dem Straßenschild und wundert sich. Denn weit und breit nur bäuerliche Landschaft. Und dennoch steht man auf industriehistorischem Boden. Denn nur 100 Schritte weiter, in einem Waldstück jenseits des Ackers, der an die „Zechenstraße“ grenzt, finden sich die nachweisbar ältesten Spuren des Bergbaus an der Ruhr.

Dr. Kurt Pfläging, Markscheider und Bergbauhistoriker von der Ruhrkohle AG:
Pfläging: Wenn sich Industrie-Archäologie überhaupt lohnen würde, dann würde ich sofort vorschlagen, hier anzufangen. Denn diese Gegend südlich von Sprockhövel ist so unberührt, seit 200 Jahren, daß wirklich alle Spuren, die jeweils gelegt worden sind, heute auch noch wiedergefunden werden müssen.

Hinz: Kurt Pfläging tritt auch den Beweis an. Er hat im Staatsarchiv von Münster alte Urkunden und Bergkarten studiert, uralte Orts- und Flurbezeichnungen miteinander verglichen, geschichtliche Folgerichtigkeiten ermittelt und überlieferte Fixpunkte, wie Hof­ und Ortsnamen in die heutige Grundkarte eingemessen. Ergebnis dieser intensiven Recherchen: An dieser Stelle südlich von Sprockhövel ist – wie sonst nirgendwo im Ruhrgebiet – über 450 Jahre alter Bergbau lückenlos zurückzuverfolgen.

Es gibt eine Urkunde aus dem Jahre 1547, in der von der Teilung eines Gutes „Schee“ die Rede ist, und in der ein Bergbau in den „Dykerdellen“ und „In den Stocken“ erwähnt wird. In Papieren des ersten Märkischen Bergmeisters Dietrich von Diest findet sich 1637 – also 9o Jahre später – die älteste Verleihungsurkunde des Ruhrbergbaus. Und genau hier werden die­ selben „Kohlbänke in den Stocken“ beschrieben. Eine Bergkarte von 1785 führt den Beweis fort. 1795 sprechen preußische Bergkommissare von dem Bergbau an diesem Ort. Und 1830 zeichnete ein Markscheider namens Küpper eine Bergkarte, in der die Spuren dieses Bergbaus (nämlich trichterförmige Vertiefungen im Waldboden) bereits als alte Grubenbaue gekennzeichnet sind. Man liest die Namen der Kohlenflöze „Feldbank“, „Eggerbank“, „Gertgen“ und „Lehnbank“ – Bezeichnungen, die heute niemand mehr kennt. Es sind Magerkohlenflöze, die heute „Geitling“, „Mausegatt“ und „Kreftenscheer“ heißen, und die an dieser Stelle aufgrund bestimmter geologischer Entstehungsvorgänge zum Teil sage und schreibe 4 Meter mächtig sind. Da diese auffällig dicken Kohlenflöze hier an die Tagesoberfläche kommen, müssen sie auch schon im Mittelalter den Leuten bekannt gewesen sein. Tatsächlich trieben hier die Bergleute vor 450 Jahren schräge Schächte in die Erde und folgten den Kohleflözen bis zu 130 Meter tief in die Erde. Diese Gruben waren etwa zwei bis drei Jahre lang in Betrieb.

Kurt Pfläging: Und sobald die Kohlen hier abgebaut waren, ging man 10 oder 20 Meter weiter und setzte einen neuen Schacht an. Und die alten Löcher gingen zu Bruch und haben sich auf diese Weise über Jahrhunderte erhalten.

Hinz: Die alte Karte von 1830 markiert diese Löcher im Waldboden – bergmännisch „Pingen“ genannt – so genau, daß man sie noch heute exakt identifizieren kann. Die Pingen, insgesamt weit über 100, ziehen sich reihenweise durch den Wald – alle 10 Meter etwa ein ehemaliger Schacht und das in acht Reihen von rund 30 Metern Abstand. Mit anderen Worten: Hier trat die Kohle auf engstem Raum in großen Partien zu Tage.

Man sieht im Wald die Umrisse eines alten Göpel­ Schachtes, an dem mit Pferden die Kohle zu Tage gehoben wurde. Aus der Karte von 1830 ist herauszulesen, daß dies der Schacht „Max“ war. Daneben muß ein sogenannter Wetterofen gestanden haben, der für die Luftzirkulation in den Grubenbetrieben nötig war. Nach den Resten solcher Anlagen suchen Industrie­ Archäologen heute. Tatsächlich finden sich im Wald – wenn man nur ein bißchen im Laub scharrt – alte Schlackensteine von diesem Wetterofen. Man bräuchte nur einen Schürfgraben zu ziehen, um überraschende Funde zu machen. Uralte, und in den Karten noch verzeichnete Pflasterwege, würden wieder sichtbar werden. Aber mehr noch:

Pfläging: Wenn man hier an diesen Löchern heruntergraben würde, vielleicht nur 5 bis 10 Meter, würde man in die offenen Hohlräume wieder hineinkommen können.

Sie sind wegen der geringen Überdeckung nicht verworfen oder zu. Und man wird sicherlich noch alte Hacken, Spitzeisen, aber auch Öllampen oder alte Reste von Förderschlitten oder Fördertragen finden können.

Hinz: In diesem Waldstück war der Bergbau der alten Zeche „Stock und Scherenberg“, der mit Sicherheit vor über 500 Jahren und wahscheinlich noch früher begann. Zwei Höfe in unmittelbarer Nähe tragen noch heute diese Namen.
Bleibt eines festzuhalten: Bergbau an der Ruhr gab es mit Sicherheit schon vor 1547 – dem Ausgangs­ punkt dieser Geschichte. In Essen, Witten oder sonst wo. Wo die Wiege des Ruhrbergbaus stand, ist nicht mehr auszumachen, aber die ältesten urkundlich nachweisbaren Spuren des Bergbaus an der Ruhr sind jetzt gefunden und könnten archäologisch erforscht werden.

Westdeutscher Rundfunk -Studio Essen-
von Ulrich Hinz

Zwischen Rhein und Weser/WDR I/16.o5 – 17.26 Uhr/ 14.4.1981

Moderation:
Von einem neuen Zweig denkmalpflegerischer Tätigkeit ist die Rede – nämlich von der Industrie-Archäologie. Unter diesem Stichwort stöbern Experten und engagierte Laien im Ruhrgebiet umher, um die Wiege des Ruhrbergbaus zu finden, also den Ort, wo einmal alles angefangen hatte. Die Westfalen haben schon seit einiger Zeit Erfolg gemeldet. Im Wittener Muttental – sagen sie – habe der Ruhr­bergbau begonnen und veröffentlichen dies auch, wo immer sich dazu die Gelegenheit bietet. Doch Nachrichten dieser Art, daß im Wittener Muttental der älteste Bergbau des Ruhrgebietes anzutreffen sei, sind nachweislich falsch.

Dennoch und oft sogar wider besseren Wissens wird dieses Wittener Märchen von der Wiege des Ruhrbergbaus weiter­ erzählt und in Zeitungen und Zeitschriften nachgedruckt.

Dazu ein Kommentar von Ulrich Hinz:
Hinz: Es ist schon bemerkenswert, wie hartnäckig hierzulande ein Märchen zur Tatsache hochgeredet wird. Da gibt es beispielsweise im Muttental zu Witten einzigartige Zeugnisse eines frühen Bergbaus zu sehen. Die Stadt Witten, das Land und der Landschaftsverband Westfalen­ Lippe haben inzwischen rund 1,2 Millionen Mark in die Restaurierung der vor- und frühindustriellen Anlagen dort investiert und können auf sehr anschauliche und eindrucksvolle Weise zeigen, wie es im frühen Bergbau des Ruhrgebietes einmal zugegangen ist. Dies ist ja auch soweit ganz gut, wenn nicht übereifrige Lokal-Historiker aus Begeisterung und Patriotismus – oder was auch immer sie sonst zu Superlativen treibt – die Legende verbreiteten, hier habe der Ruhrbergbau seinen Anfang genommen.

Abgesehen davon, daß niemand sagen kann, wann und wo tatsächlich das erste Pfund Kohle aus der Erde gekratzt wurde – fest steht jedoch, daß die ältesten urkundlich belegbaren Spuren des Ruhrbergbaus eben nicht im Wittener Muttental, sondern andernorts, und zwar bei Sprockhövel zu finden sind.

Um recht verstanden zu werden: Alle Aktivitäten, die Vergangenheit wiederzufinden, sind lobenswert. Und wenn zum Beispiel ein Bankdirektor in seiner Wittener Filiale eine Ausstellung mit Dokumenten aus der Bergbau-Geschichte dieser Stadt zeigt und darüber dann ein Buch schreibt – so ist das gut! Wenn in diesem Buch aber Experten des Bochumer Bergbau-Museums mit der ganzen Autorität ihres Standes behaupten: Jawohl, hier im Muttental hat der Bergbau begonnen – dann ist das schlecht.
Die Bochumer Experten hatten sich schon einmal mit einer Expertise geirrt, als nämlich im Essener Deilbachtal angeblich uraltes Bergbau-Gemäuer sich als Reste eines alten Schornsteins herausstellte.

Irrtümer können nun jedem unterlaufen, aber man muß doch fragen, warum ausgerechnet den Experten jene Fach­literatur verborgen bleibt, die selbst jedem Laien ein fundierteres Wissen über den frühen Bergbau eröffnet.

Bis auf das Märchen von jenem Schweinehirten, der die Kohle entdeckt haben soll (eine Geschichte, die in beinahe allen Lesebüchern steht), ist über das Muttental in Witten nirgendwo etwas Besonderes – jedenfalls nichts wissenschaftlich Belegtes erschienen.

Dafür finden sich aber genügend Hinweise auf bergbauliche Anlagen im Ruhrgebiet, die wesentlich älter und wesentlich bedeutender sind als die Wittener Bergbau­ Relikte. Doch da haben die Industrie-Archäologen noch nicht richtig nachgeschaut. Auch im Staatsarchiv von Münster, wo die für den Bergbau-Historiker verbindlichen Original-Unterlagen zu finden sind, hat sich noch niemand sehen lassen. Jedenfalls findet sich im Ausleih­register des Staatsarchivs kein einziger Name derer, die heute ihre Weisheiten über die Anfänge des Bergbaus verbreiten.

Getreu dem Satz: Man wird sich doch durch Nachforschungen nicht seine schöne Story kaputtmachen lassen, drucken Zeitungen und Zeitschriften das Märchen von der Wiege des Bergbaus unentwegt und bedenkenlos nach. Und weil – leider – einer vom anderen abschreibt, entsteht so eine Geschichte, die zwar nicht stimmt, sich aber ganz gut verkaufen läßt.

Wenn Industrie-Archäologie wirklich einmal etwas werden soll, dann genügen Titel und Reputation beamteter Experten allein nicht mehr. Dann müssen sich die Fachleute zu etwas mehr Wissenschaftlichkeit zwingen: Quellenstudium und gewiss mehr Mittel und mehr Personal für diese speziellen Aufgaben. Doch noch besser wäre es, wenn nicht dauernd nach schnellen Erfolgen und großen Schlagzeilen geschielt, dafür aber exakt gearbeitet würde, wie man es von Historikern und Archäologen sonst gewohnt ist.

Glückauf!

Kurt Pfläging (* 18. Juni 1934; † 9. Januar 2012) war ein promovierter Ingenieur, ehemaliger Markscheider und ein Verfasser grundlegender Werke über den Ruhrbergbau.

Pfläging beschäftigte sich vor allem mit den Anfängen des Bergbaus, der Bergbaugeschichte im südlichen Ruhrgebiet und der Rolle von Heinrich Friedrich Karl vom Stein. Er lebte in Hattingen und engagierte sich unter anderem für den Erhalt des Malakowturms der Zeche Alte Haase.